LINZER BAUKASTEN

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BAUKASTEN LINZ

Renate Billensteiners kunstvolles Spiel mit den baulichen Realitäten der Stadt

Mit den Klötzen und Steinen eines Baukastens setzen Kinder eine subjektive, oft fantasievolle, manchmal irrationale neue Welt (Stadt) zusammen. Es ist ein Spiel mit Häusern, Architektur und Stadt, die zu einem imaginierten Bühnenraum für die eigenen Geschichten werden. Und es ist ein Spiel, das die Zerstörung, das Weg – und Aufräumen, bereits in sich trägt. Dass die Bausteine am Ende des Spiels wieder in die Schachtel müssen, gehört zum Wesen des Baukastens. Dort warten sie dann geduldig bis zur nächsten Runde. Wenn Renate Billensteiner ihrem Zyklus bildlicher Architekturcollagen den Titel Baukasten gibt, greift sie das Wesen des genannten Spiels auf. Ihr Spielfeld ist allerdings nicht das Kinderzimmer, sondern die Stadt Linz. Und sie kehrt das Verhältnis von schaffen und wegräumen um. Seit 2018 fotografiert sie in Linz zum Abriss bestimmte Gebäude und dokumentiert den Prozess ihres Verschwindens bis hin zu den Bildern der übrigbleibenden Baugruben. Letztere zeigen eindrücklich, dass aus gebauter, lebendiger Identität schnell ökonomisch motivierte Leere werden kann. Das „Spielfeld“ der großen Kinder (Investoren, Planer, Projektentwickler, etc.) ist die reale Stadt. Allerdings werden die abgeräumten Spielsteine nach dem Abriss nicht in die Schachtel zurückgeräumt, sondern sie verschwinden. Und der Gewinn liegt nicht in der Erfüllung des Fantastischen, sondern von Renditewünschen.

OBJEKTIVE DOKUMENTATION

Mit ihren Fotos „todgeweihter“ Linzer Bauten verbindet sie zunächst die Absicht des dokumentarischen Festhaltens. Diese Arbeit ist nicht abgeschlossen, bis heute entsteht ein laufend erweitertes Archiv des Verlustes. Es geht ihr dabei nicht um die Produktion bildlicher Anklagen oder die künstlerische Hingabe an eine – moralisch aufgeladene – Nostalgie, die alles Alte im Stadtraum für gut befindet und zu verteidigen sucht. Mit der ausgefeilten ästhetischen Neutralität, die diese fotografische Arbeit seit langem kennzeichnet, werden Veränderungen und Zustände des uns alle umgebenden Stadtraums festgehalten. Meist nehmen wir die resultierenden (Ab-)Brüche im Alltag kaum oder nur unbewusst wahr, trotzdem entfalten sie Wirkung und machen etwas mit uns.

LINZER CAPRICCIOS

Für ihren Linzer Baukasten wird die fotografische Objektivität ihrer dokumentarischen Architekturbilder aufgehoben und das in Linz aufgenommene Material zum Ausgangspunkt eines bildlichen Spiels verwendet. Sie zerlegt das architektonische Gesamtbild der Häuser in einzelne Teile und Details. Diese werden digital zu neuen Fantasiearchitekturen (re-)komponiert. Und plötzlich wird aus dem neutralen Bilddokument eine höchst subjektive, definierte Architektur. Die verschiedenen Aufnahmewinkel und – perspektiven der Ursprungsbilder bringen es mit sich, dass die Collagen meist nur im ersten Moment der Betrachtung architektonischer, konstruktiver und tektonischer Logik zu entsprechen scheinen. Erst bei eingehender Betrachtung erkennt man Unstimmigkeiten und Widersprüche. Die willkürlichen Fassaden sind durchaus „fehlerhaft“. All dies unterstreicht die Zugehörigkeit der Bilder zur Gattung des architektonischen Capriccios bzw. der Architekturfantasie. Seit der beginnenden Renaissance ermöglicht diese Bildgattung die Vorstellung irrealer Architekturen und Stadtansichten, die zuweilen die Sehnsucht nach dem Skurrilen und Grotesken befriedigen. Es sind Erfindungen, die bewusst überraschen oder irritieren und dadurch erhöhte Aufmerksamkeit generieren. Manche Darstellungen zeigen Idealarchitekturen, andere formulieren als architektonische Phantasmen völlig ungewohnte Physiognomien des Architektonischen. Das Groteske steht nicht im Vordergrund. Ihre Architekturen verstehen sich durch das Collagieren aus verschiedenen – bestehenden und verschwundenen – Realitäten als Abbilder der räumlichen, zeitlichen und gestalterischen Vielfalt des Stadtraums Linz. Es sind Erinnerungsbilder, die gerade durch den Verzicht auf den wirklichen Ort und Kontext, die Wahrnehmung für die Divergenz und Widersprüchlichkeit der Stadt schärfen. Durch die porträthafte Freistellung der Kompositionen auf weißem Grund wird die Loslösung von der spezifischen Geschichte und Identität der Orte unterstrichen. Es entsteht vertraut Neues bei gleichzeitiger Rückbindung an das Gewohnte.

Und auch wenn die Capriccios wie Suchbilder anmuten, lassen sie uns mit deren Rätselhaftigkeit nicht allein. Den farbigen Collagen auf der rechten ist auf der linken Seite eine glossarartige, mit den Konturen der ausgewählten baulichen Einzelteile illustrierte Legende gegenübergestellt. Sie ermöglicht nicht nur die Zuordnung der einzelnen Bausteine zu konkreten Bauten und Orten in Linz, zugleich ist sie zeichnerisches Protokoll des künstlerischen Collageprozesses. In den farbigen Architekturfantasien auf der rechten Seite finden sich die gleichen zeichnerischen Konturen wie beim Glossar. Hierdurch werden Fotografie und Collage nicht nur grafisch bereichert, sondern kompositorisch zu einer lesbaren, klar gegliederten Einheit verschmolzen. Und spätestens in diesem Moment werden Billensteiners Baukastenbilder zur Kunst im dynamischen Wechselverhältnis von Realität, Erfindung, Fantasie und Spiel.                                                                           Text: Georg Wilbertz